Analphabetismus - ein unterschätztes Problem

 

 

Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten sprechen häufig nicht darüber - aus Angst, bloßgestellt zu werden. Wie der gut fünfzigjährige Hafenarbeiter Uwe B.: Lesen und Schreiben hat er nie richtig gelernt. Mit seiner Arbeit ist er lange gut klar gekommen. Seine Schwierigkeiten begannen erst, als sein Job komplizierter wurde und er zusätzlich Papiere ausfüllen sollte. Auch die ehemalige Analphabetin und heutige Hauswirtschaftslehrerin Jutta S. hatte im zweiten Schuljahr den Anschluss verloren. Die beiden sind kein Einzelfall.

Deshalb will die Bundesregierung Lese- und Schreibschwierigkeiten bei Erwachsenen abbauen. Dafür soll es ein Grundbildungspakt für Alphabetisierung geben.

Millionen von Menschen verlassen die Schule ohne Abschluss und haben damit kaum eine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Sie scheitern im täglichen Leben an Speisekarten, Hinweisschildern, beim Geldabheben, am Fahrscheinautomaten oder an Klingelschildern von Wohnhäusern. Es fällt ihnen schwer, eine E-Mail oder SMS zu schreiben oder sich an fremden Orten zurecht zu finden. Sie haben zahlreiche Tricks und Strategien entwickelt, um durch den Alltag zu kommen. Sie verstecken sich hinter Äußerungen wie "Ich habe meine Brille vergessen" oder "Mit diesem Automaten komme ich nicht klar". Sie nehmen Nachteile im Arbeitsalltag in Kauf und sind oft isoliert.

7,5 Millionen Deutsche sind funktionale Analphabeten

7,5 Millionen Menschen in Deutschland zwischen 18 und 64 Jahren können nicht ausreichend lesen und schreiben. Rechnet man die Gruppe der bis 80-Jährigen noch dazu, kann man von weiteren zwei Millionen ausgehen.

Rund zwei Millionen können nur einzelne Worte lesen und schreiben. Weitere 5,2 Millionen Menschen können zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben, scheitern aber bereits an kurzen zusammenhängenden Texten: Eine kurze schriftliche Arbeitsanweisung können sie nicht verstehen.

Rund 21 Millionen Menschen, knapp 40 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung, machen selbst bei gebräuchlichen Worten Fehler. 300.000 Menschen sind vollständige Analphabeten: Sie können weder lesen noch schreiben. Ihr Berufsleben ist geprägt von Ängsten und dem Zwang, zu täuschen und zu vertuschen. Sie können nur eingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen: Deshalb schämen sie sich.

Meist spielen mehrere Ursachen eine Rolle, wenn jemand zum funktionalen Analphabeten wird: Genetisch bedingte Leseschwäche, sozial schwaches Elternhaus, zu große Klassen und überforderte Lehrer. Geringe Grundbildung wird häufig begleitet von Armut, Schulden und Arbeitslosigkeit.

Mit Grundbildungspakt gegen Analphabetismus

Die Bundesregierung will diesen Menschen helfen. Gemeinsam mit Ländern, Kommunen, Wirtschaft und Gewerkschaften, Kammern, Kirchen und Volkshochschulen wollen Bund und Länder deshalb mit einem Grundbildungspakt gemeinsam gegen fehlende und mangelnde Schreib- und Lesekenntnisse vorgehen. 20 Millionen Euro stellt das Bundesbildungsministerium bis 2014 dafür zur Verfügung. "Wir müssen eng mit den Unternehmen zusammenarbeiten. Wir brauchen Programme, die am Arbeitsplatz ansetzen, die die Sensibilität für Lese- und Schreibfähigkeiten schärfen", sagte Bundesbildungsministerin Schavan.

Nationale Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener in Deutschland

Bund und Länder haben sich über eine gemeinsame nationale Strategie zur Verringerung der Zahl funktionaler Analphabeten verständigt, um die Lese- und Schreibkenntnisse bei Erwachsenen zu verbessern. Gemäß einer aktuellen Literalitätsstudie der Universität Hamburg im Auftrag des BMBF sind 14 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung in Deutschland funktionale Analphabeten. Die Länder haben sich zur Ausgestaltung der nationalen Strategie verpflichtet, in die alle gesellschaftlichen Gruppen einbezogen werden sollen. Große Medienanstalten: Rundfunk, Fernsehen und Verlage sollen in diesen Prozess ebenso einbezogen werden wie die neuen sozialen Netzwerke im Internet.

Mit seinem Förderschwerpunkt "Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener" fördert der Bund bis Ende 2012 mit rund 30 Millionen Euro insgesamt 24 Verbundvorhaben mit über 100 Einzelprojekten.

Mit Unterstützung des Bundesbildungsministeriums hat der Deutsche Volkshochschulverband e.V. das E-Learning-Portal ich-will-lernen.de entwickelt. Das Lernportal bietet kostenlose Online-Übungen im Bereich von Alphabetisierung und Grundbildung. Mehr als 290 000 Lernende haben sich bereits angemeldet, rund 15.000 Nutzer sind an fünf Tagen der Woche online.

Das Alfa-Mobil berät vor Ort. Es fährt insbesondere in Regionen, in denen es bisher wenig bis gar keine Alphabetisierungsangebote gibt, um dort die Einrichtung von Kursen zu unterstützen. Mit dem Computerspiel Winterfest können Grundfertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen trainiert und gefestigt werden. Es steht kostenlos zur Verfügung

Rund 45.000 Menschen nehmen jährlich an Schreib- und Lesekursen teil. Der Hafenarbeiter Uwe ist einer von ihnen. Mit dem Schreiben hapert es noch, einfache Bedienungsanleitungen kann er aber schon lesen.

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